Der Strom des Bewusstseins by Oliver Sacks

Der Strom des Bewusstseins by Oliver Sacks

Autor:Oliver Sacks [Sacks, Oliver]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783644040915
Herausgeber: Alfred A. Knopf, New York u. Toronto, 2017


Kapitel sieben

Das schöpferische Selbst

Alle Kinder spielen leidenschaftlich gern, wobei sie teils Bekanntes wiederholen und nachahmen, teils Neues erfinden und erkunden. Vertrautes wie Ungewöhnliches fasziniert sie gleichermaßen – das, was bekannt und gefahrlos ist, gibt ihnen Sicherheit und Halt, und Neues, das sie noch nie erlebt haben, erforschen sie. Kinder haben ein elementares Verlangen nach Wissen und Verstehen, sie brauchen geistige Nahrung und Anregung. Zum Entdecken oder Spielen müssen wir sie nicht auffordern oder «motivieren», denn Spielen ist – wie alle kreativen oder «proto-kreativen» Tätigkeiten – intrinsische Lust, reines Vergnügen.

Am Phantasiespiel sind sowohl innovative wie nachahmende Impulse beteiligt. Dabei werden oft Spielzeuge, Puppen oder kleine Nachbildungen realer Objekte benutzt, um neue Konstellationen darzustellen oder bereits bekannte zu wiederholen. Kinder lieben Geschichten, wobei sie sich diese nicht nur von anderen erzählen lassen, sondern sich auch selbst welche ausdenken. Geschichtenerzählen und Mythenbildung sind fundamentale menschliche Tätigkeiten, uralte Strategien, um die Welt zu verstehen.

Intelligenz, Phantasie, Talent und Kreativität werden ohne Wissen und bestimmte Fertigkeiten ins Leere laufen. Aus diesem Grund muss Bildung ausreichend strukturiert und fokussiert sein. Aber eine zu strenge, zu formelhafte Erziehung, die das narrative Element ausklammern will, wird den aktiven und neugierigen Verstand des Kindes verkümmern lassen. Bildung muss ein Gleichgewicht zwischen Struktur und Freiheit schaffen und auf die individuellen Bedürfnisse der Kinder, die sehr unterschiedlich sein können, Rücksicht nehmen. Die Talente mancher Kinder entfalten sich am ehesten unter dem Einfluss guten Unterrichts. Andere Jungen und Mädchen (nicht selten sind es die kreativsten) verweigern sich dem formalen Unterricht; sie bleiben im Wesentlichen Autodidakten, von dem Drang beseelt, alleine zu lernen und zu forschen. Die meisten Kinder durchlaufen in diesem Prozess viele verschiedene Stadien und brauchen zu unterschiedlichen Zeiten mal mehr, mal weniger Struktur, mal mehr, mal weniger Freiheit.

Die unersättliche Aneignung und Nachahmung unterschiedlicher Vorbilder mögen an sich nicht kreativ sein, sind aber oft Vorboten künftiger Kreativität. Kunst, Musik, Film und Literatur können – in nicht geringerem Maße als Fakten und Informationen – für eine besondere Form der Bildung sorgen. Arnold Weinstein spricht in diesem Zusammenhang vom «stellvertretenden Eintauchen in das Leben anderer, das uns neue Augen und Ohren verleiht».

In meiner Generation erfolgte dieses Eintauchen fast ausschließlich durch Lesen. 2002 berichtete Susan Sontag auf einer Konferenz, wie ihr das Lesen in sehr jungen Jahren die ganze Welt erschloss und ihr ermöglichte, in ihrer Phantasie und ihrem Gedächtnis die Grenzen der realen, unmittelbaren Erfahrung zu überschreiten. Sie erinnerte sich:



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